GUSTAV MAHLER

Anders als bei irgendeinem anderen kanonisierten klassischen Komponisten löst Mahlers Werk immer noch Widerspruch, Bewunderung aber auch Unbehagen, ja sogar Ekel aus. Staunen, Vergötterung und Ablehnung stehen eng nebeneinander. Den Einen hat er die Welt tief und weise erklärt, den Anderen ist er überhaupt kein Künstler, da er nicht „logisch“, nicht „fertig“ mit leerem Pathos Stückwerk komponiert hat, zu zerrissen, zu offenkundig die Seele des Menschen entblößt. Vermutlich hat er das „symphonische Ich“ erfunden, jedenfalls hat er es bis zur Spitze getrieben. Mahler verwendet neben seinen persönlichen Erlebnissen, Visionen, seinem Glauben und seinen Weltanschauungen, sich als „Dichter-Komponist“ verstehend, vieles aus seiner Lieblingsliteratur, um eine gänzlich neue Form der Programmmusik zu gestalten. Seine erste Symphonie heißt von Jean Paul inspiriert - „Titan“. Er verwendet als bekannter Vielleser Texte von Nietzsche (3. Symphonie) und Goethe (8. Symphonie) und zitiert in Abwandlung seine eigene Musik wie die anderer Komponisten kreuz und quer innerhalb seiner Werke. Tatsächlich scheint für Mahler zu gelten: jeder Symphonie liegt ein tiefer philosophischer Gedanke zugrunde, Musik war für ihn ein Abbild der Natur, der Welt in Form der Sphärenmusik - „musica mundana“ - sodass mit jedem einzelnen Werk eine tiefe, allumfassende Welterkenntnis verstanden werden soll. Mahler hat sich buchstäblich der „Wahrheit“ verpflichtet wie kaum ein anderer Komponist. Deshalb scheut er sich mit jeder Symphonie weniger, sein Innerstes nach außen zu kehren. Da er glaubt, seine geliebte, knapp 20 Jahre jüngere Frau Alma zu verlieren, komponiert er ihre komplexe Beziehung direkt hinein in seine fünfte und sechste Symphonie. Er widmet ihr die achte Symphonie und schreibt im Delir in den Finalsatz seiner letzten Symphonie: „Für dich leben! Für dich sterben! Almschi!“ Es sind bis zuletzt sich steigernde Auseinandersetzungen mit dem Erlebten und den Themen Abschied vom Leben, Sinn des Daseins, Tod, Erlösung, Leben nach dem Tod und Liebe. Das gab es in dieser Form und Intensität in der Musikgeschichte bis dahin noch nicht und sucht bis heute Ihresgleichen. Mahlers Werk wurde nach seinem Tod immer weniger aufgeführt, erst allmählich begann in den sechziger Jahren (auch mit beträchtlichem Widerstand in Wien !) der Siegeszug seines Oeuvres, die vielfache Verwendung seiner Musik in vielen Bereichen der Kunst, etwa auch im Film (Ennio Morricone und John Williams und Luigi Visconti) unterstreicht nur die hohe geistige Flexibilität, die seinem Werk zugrunde liegt. Mahler war modern, er suchte Freud wegen seiner seelischen, vor allem wegen seiner Eheprobleme auf, dieser meinte: „Es war wie wenn man einen einzigen, tiefen Schacht durch ein rätselhaftes Bauwerk graben würde.“ Wie Mahlers Werk an der Kippe zur Moderne stand, diese auch miteinleitete, so war Mahlers Krankheit, nämlich eine rheumatisch bedingte Herzklappenentzündung, die schließlich zu einer bakteriellen Besiedlung der Klappen führte, gerade durch moderne medizinische Technik diagnostizierbar, aber, da es noch keine Antibiotika und moderne Herzchirurgie gab, war die Diagnose mit einer tödlichen Prognose verbunden. Mahler war zutiefst von Nietzsche und vor allem Goethe von der ewigen Wiederkunft des Einzelnen überzeugt: „Am Ende der Welt möchte ich in Wien sein, weil dort alles 25 Jahre zu spät eintrifft.“